„Bau Dir ein Bild so wie es Dir passt, sonst
ist an der Spitze für Dich kein Platz“ (Fehlfarben)
Das Buch „Der weisse Strich“
Beim folgenden Text handelt es sich nicht um eine
Buch-Rezension, sondern um Anmerkungen zum Gesamteindruck und zu bestimmten
in dem Buch auf-
geworfen Aspekten. Dabei beziehe ich mich ausschließlich
auf die darin enthaltenen Aussagen der Mauermaler sowie auf die Texte der
beiden Herausgeber und auf diejenigen der bucheinleitenden Autoren. Wegen
der Vielzahl von zu kommentierenden Details aus dem Buch habe ich mich
dazu entschieden, eine gekürzte und für detailinteressiertere
Leser eine ausführ-
liche Version zu schreiben. Letzte ist als Link
am Ende dieses Textes zugänglich.
Einleitung
Bereits in der thematischen Buch-Einführung
durch Cornelia Liebold und Ger-
hard Sälter kündigt sich die Unerträglichkeit
der in diesem Buch dominieren-
den Perspektive an, wenn es in dieser Einführung
heisst: "Freigekauft, ausgereist und abgeschoben trafen sie sich in West-Berlin
wieder und störten sich recht bald an der dortigen Mauer-Idylle. Zwar
bot der besondere Status von Westberlin auch ihnen einen Freiraum für
neue Aktivitäten, aber dass die Mauer von vielen West-Berlinern nicht
mehr als Begrenzung eines unfreien Staates und als Einschränkung des
Lebensraums der DDR-Bürger wahrgenom-
men wurde, sondern nur noch als bunt bemalte Kulisse,
irritierte sie. So entschlossen sie sich, die Mauer mit einem weissen Strich
zu markieren und dadurch wieder als eine Grenze kenntlich zu machen, die,
wenn es nach dem Willen der SED-Führung gegangen wäre, nicht
nur die Freizügigkeit der Ost-
deutschen einschränkte, sondern auch ihre
Wahrnehmung. " (S.7)
An diesen Sätzen ist so ziemlich gar nichts
wahr, denn der Lebensraum der DDR hat uns damals gerade am wenigsten interessiert.
Gerade daß er von den beiden Autoren so besonders erwähnt wird
lässt diese Aussagen fast als Af-
front gegen unsere damaligen Motive erscheinen:
auf die Begrenzung des Lebensraumes der Westberliner hinzuweisen. Genau
dieser öffentlich kaum berücksichtigte Aspekt des Betonwalls
wollte von uns thematisiert werden, da wir nun nicht mehr durch die östlich
gelegene Mauer, sondern diejenige auf der Westseite eingeschränkt
waren und die Aktivitäten der einzelnen Prota-
gonisten fast immer Aspekte ihrer unmittelbaren
Gegenwartserfahrung the-
matisierten.
Liebold und Sälter liegen ebenfalls falsch,
wenn sie schreiben, daß die Aktion
eine des Protests gewesen ist. Vielmehr handelte
es sich um einen Hinweis, einen Reflexionsanstoß, den Versuch einer
Bewußtmachung innerhalb einer Expedition an die Grenzen des Westberliner
Lebens und in die Umgebung der Westseite der Berliner Mauer.
Auch die Mähr vom Abgeschobenwordensein wird
in dieser Einleitung ver-
breitet, obwohl von den Mauermalern niemand
abgeschoben worden ist. Alle hatten Ausreiseanträge gestellt, wobei
es unerheblich ist, ob dem Antrags-
wunsch bloß die Einschränkungen des
DDR-Lebens oder wie in meinem Fall durch Ausreiseantragstellung massgeblich
reduzierbare Haftverbüßungen zugrunde lagen. Diese die Ausreiseanträge
begründende Not macht daraus keine Abschiebungen, andernfalls wären
sämtliche realen Notsituationen entkommenen Flüchtlinge auf der
Welt als Abschiebungen ihrer Regierungen zu verstehen. Wenn sich Rechtsanwalt
Schnur im Rahmen seiner MfS-Ent-
tarnung gegenüber Gefangenen als Empfehlungsgeber
von Ausreiseanträgen entpuppte, so läßt sich das nicht
als der Versuch lesen, die Gefangenen
über den Weg einer Überredung zum Ausreiseantrag
abzuschieben. Grund
von Schnurs Empfehlung, diesen Antrag zu stellen
war vielmehr, daß die DDR mit der Ausbürgerung dieser Gefangener
noch ein Freikauf-Geschäft machen wollte. Für Abschiebungen,
die ja immer gegen den Willen der Person statt-
finden, sonst könnte man sie nicht als solche
bezeichnen, bekommt man jedoch kein Geld.
Niemand von uns störte sich an der angeblichen
Maueridylle. Jürgen Onißeit stellte lediglich irgendwann Mitte
der 80er Jahre fest, daß diese meterhohe Betongrenze auch den
Lebensbewegungsradius Westberlins einschränkte und
die Mauermalereien über dieses reale Begrenztsein
einen bunten Schleier webten. Der Westberliner Einwohner war von der Mauer
auf konträre Art zu den Einschränkungen, die der Ostberliner
durch die Mauer hinnehmen mußte, betroffen. Im Gegensatz zum
Ostberliner konnte der Westberliner nicht mal eben völlig zwangsgeld-
und bürokratielos Westberlins städtischen Raum verlassen
oder gar ins erweiterte Berliner Umland fahren, andererseits aber jederzeit
per Flieger oder über die DDR-Transitstrecke irgendwohin in die weite
Welt reisen, was dem Ostler wiederum versagt war. Der Westberliner blieb
im Alltag in seiner Stadt gefangen, der Ostler in seinem ganzen Leben in
seinem Land, seinem Gesellschafts-System, war aber andererseits den engen
städtischen Begrenzungen, denen der Westberliner ausgesetzt war, nicht
un-
terworfen. Onißeits Idee der Markierung
dieser Eingrenzung Berlin-West fand einen positiven Widerhall bei vier
der von ihm und daraufhin auch von mir angesprochenen Personen, woraufhin
die Aktion Wochen später starten konnte, weil sich dies aufgrund der
Schul-Herbstferien, die alle Beteiligten zu dieser Zeit gehabt haben, als
der ideale Zeitpunkt erwies. Der symbolische Hinweis auf diese unsere Westberliner
Umgrenzung, der Expeditionscharakter dieser Grenzgebietserkundung und die
gemeinsame Energieverausgabung für eine sinnvoll erscheinende Sache
standen im Vordergrund. Alles andere ist nachträglich hinzugedichtet
worden. Eine Motivation wird im übrigen nicht dadurch wahrer, nachhaltiger
und eindeutiger, wenn man sie nur oft genug wiederholt. So hat uns die
Symbolisierung der Westberliner Grenzen durchaus nicht derart heftig auf
den Nägeln gebrannt, wie es heute mit den Worten „Störten sie
sich an der Unerträglichkeit der Mauer“, „Mauerhass“ und der öffentlichen
Wiederholung dieser fast schon als Obessionen lancierten Be-
weggründe den Eindruck erweckt.
Es war Jürgen Onißeit, der uns als damaliger
„Leader“ bei der Werbung für seine Aktionsidee im Grunde erst zu Bewußtsein
brachte, daß die Mauer unser Westberliner Leben im Grunde wie eine
Ghettomauer einschließt und daß die die Mauermalereien
diese -unseren unmittelbaren Lebensraum eingrenzenden- Realität überdecken.
Hin und wieder sprach Jürgen Onißeit
vom „Einbetonieren“ oder "Zuscheissen der DDR" und nahm bei dieser Wunschvorstellung
keine Rücksicht auf ir-
endwelche dort lebenden Menschen, seien sie für
oder gegen das dortige Re-
gime.“Einfach zuscheissen den Laden“ sagte er.
Man kann die egozentrische, bewußt mitleidlose Attitüde dieser
Vorstellung schlechtheissen. Das wäre allemal realitätsnäher
als sie einfach deshalb zu ignorieren, um Jürgen Onisseits Idee zum
weissen Mauerstrich als die zu einer solidarisierenden Erinnerung an das
Schicksal der DDR-Bürger erscheinen zu lassen.
Anne Hahns Text
Nach der durchgefallen Bucheinführung von
Liebold und Sälter skizziert Autorin Anne Hahn die DDR und im Besonderen
das Weimar der 80er Jahre, obwohl es
deutlich angemessener gewesen wäre, daß
Westberlin der 80er Jahre zu beschreiben, sollte es doch in einem Buch
über diesen weißen Strich um die realen Bedingungen gehen, aus
denen die Idee zu einer solchen Aktion her-
vorgegangen ist. Aber Hahn läßt gleich
in den ersten Sätzen ihres Textes durchblicken, daß es ihr überhaupt
nicht um die Darstellung der Aktion als eine auf die Westberliner Lebenssituation
reagierende geht, sondern vielmehr um eine Art Beweisführung für
die biographisch motivierte Fortsetzung der von den Strichmalern einst
unternommenen Oppositionsaktivitäten gegen die DDR. Ihr Text
schwimmt im Fahrwasser der Aufarbeitung, operiert mit den entsprechend
geläufigen Bildern und Termini und ergeht sich in teilweise
für das Buchthema völlig unwichtigen Details. Und so verschwindet
mit jeder in den Weimarer Sümpfen nach Motiv-Hintergründen fischenden
Zeile die
Realität, daß die innere Substanz der
Aktion von Herkunft und biogra-
phischem Hintergrund völlig unabhängig
gewesen und ihr Fokus nicht auf dem
DDR-Regime lag, sondern dem Westberliner Umgang
mit einer elementaren
Einschränkung des eigenen Lebens.
Katharsis
Auch im folgenden, unter dem Titel "Katharsis"
geschriebenen Abschnitt wimmelt es bei Hahn von in DDR-Oppositionsromantik,
verpackte Gut-
Böse-Selbstverständichkeiten, Episödchen
und affektiven Deutungen, die allenfalls für diejenigen interessant
sind, die sich gern darin wiederfinden, nicht aber für Leser, welche
als Aussenstehende einen Einblick in die tatsächlichen motivischen
Hintergründe der Strich-Aktion erhalten wollen. Einen an dieser Aktion
interessierten jüngeren Bürger zum Beispiel aus Hamburg oder
Rostock dürfte es nicht interessieren, ob einige der Mauer-
mal-Akteure sich sechs Jahre, bevor es zu jener
Strich-Aktion kam, im sogenannten kleinen innerdeutschen Grenzverkehr mit
ein paar Jugendlichen aus Kassel trafen., wo man dann in deren Auto durch
Thüringer Orte fuhr und sich unterhielt.
Ebensowenig das Buchthema erhellend sind all die
Ausführungen Hahns über reale und hinzuinterpretierte Zersetzungsmethoden
der Stasi Anfang der 80er Jahre in Weimar. Dies wäre als eigenes Buchthema
über die damaligen Ereig-
nisse in Weimar denkbar, hier aber beanspruchen
diese Beschreibungen die Aufmerksamkeit des Lesers für Aspekte, die
vom Thema ablenken und bio-
graphische Hintergründe in einem Ausmaß
behandeln, daß man am Ende tatsächlich den Eindruck hat, die
Aktion wäre letztlich nur die Fortsetzung einer nie abgelegten intensiven
Fokussierung auf das politische System der DDR. Ein Eindruck, der überhaupt
nicht der damaligen Situation entspricht.
Vielleicht ist ein Grund dieser linear in die
Vergangenheit verweisenden
Verbindungen der, daß Anne Hahn biographische
Brüche per se negativ bewertet. Diese negative, um nicht zu sagen
gestörte Beziehung zu radi-
kalen Lebensveränderungen führte bei
ihr möglicherweise automatisch
dazu, die Westberliner Aktion in der Kontinuität
vergangener ostdeutscher Oppositionen und deren personellen Vernetzungen
zu denken.
Zugegeben, wenn sich fünf Menschen, die sich
aus ihrer Jugend kennen, zu einer Aktivität zusammenfinden, welche
etwas zum Gegenstand hat, was in dieser Jugend schonmal in anderer Wirkungsweise
stark präsent gewesen ist,
dann kann man zunächst zu der Annahme kommen,
daß die Gründe für das Ziel dieser Aktivität sowie
die personelle Zusammensetzung in eben dieser Vergangenheit ihrer Jugend
begründet liegen. Doch wenn man sich die
Beweggründe dieser Menschen genauer anschaut
und zudem die Umstände, welche letztlich zu dieser personellen Zusammensetzung
führten stellt sich die Angelegenheit schon ganz anders dar.
Zersetzungen
Obwohl der Ausflug Hahns in die Stasi-Praktiken
Weimars für den Leser sicher nicht uninteressant ist, lenkt er nicht
nur vom Buchthema ab, sondern ist in seinem Inhalt selbst stark verzerrend.
So möchte Hahn die Zersetzungsab-
sicht des MfS dadurch beweisen, daß bei
Inhaftierungen in Weimar Strafen verhängt wurden, die nur aus dieser
Zersetzungsabsicht so hart ausfielen. Dabei waren die Handlungen, welche
zu Inhaftierungen führten dem DDR-
Gesetz nach allesamt mit solchem Strafmaß
belegbar und es ist letztlich immer wieder dieses Gesetz, was zu
kritisieren ist und meistenteils nicht, daß und wie es angewendet
wurde. Zudem muß man Hahn damit bekannt-
machen, daß im einen Fall - dem unter der
Züricher Hausbesetzer-Parole "Macht aus dem Staat Gurkensalat" bekanntgewordenen
nächtlichen Sprüh-
ktion- der Inhalt der gesprühten Parolen
den Paragraph der staatsfeindlichen Hetze erfüllt haben, dessen Strafe
ein Maß von einem bis zu 8 Jahren vorsieht. Die Sprühakteure
wurden aber wegen Rowdytum angeklagt und zu Strafen von 3,4 und 5 Monaten
verurteilt, die sie allesamt nicht im Strafvollzug, sondern in der Untersuchunshaft
verbüßt haben. Zwar hatte es zuvor schon Sprühereien gegeben,
die deutlich glimpflicher oder gar nicht sanktioniert wurden, aber die
inhaltlich weniger heftig gewesen waren, ganz abgesehen vom geringeren
quantitativen Ausmaß.
Natürlich war die Stasi bestrebt, die Unruheherde
beharrlich zu schwächen und nach Möglichkeit vollständig
zu zersetzen. Doch die ganze Zersetzungsbe-
hauptung als Begründung für die Weimarer
Inhaftierungen stimmt so nicht. Bei ihren Inhaftierungen, sowohl der Jugendlichen,
die Parolen an die Häuserwände gesprüht hatten als auch
der Wehrdienstverweigerer und der Flugblatthersteller gingen die politischen
Verfolgungsbehörden ziemlich exakt nach ihrer Gesetzeslage vor und
hätten für die Handlungen, die zu den Inhaftierungen führten
auch dann Haftbefehle erlassen, wenn die inhaftierten Personen keiner Szene
angehörten. die das MfS zersetzen wollte. Umgedreht kann man davon
ausgehen, daß ohne die genannten Handlungen die betref-
fenden Personen auch nicht inhaftiert worden wären.
Anders hingegen verhielt es sich bei Ausreiseantragstellern, die insofern
gefährlicher lebten, da man bei ihnen kleinste Vergehens-Gründe,
wegen denen man sie inhaftieren konn-
te oft regelrecht suchte, weil der Gefangenenfreikauf
für die DDR deutlich lu-
krativer war als die Genehmigung von Ausreiseanträgen.
Wenn nun Verhaftungen aus reiner Willkür und
Zersetzungsabsicht gescha-
hen, wieso haben soviele unangepasste Menschen
bis 1989 in Weimar und dort auch weiterhin in kleinen subkulturellen Szenen
gelebt, ohne jemals in Haft gekommen zu sein? Die Antwort ist recht einfach:
weil sie strafrecht-
lich nicht belangbar waren.
Die unbestreitbar vorhandene Zersetzungsabsicht
des MfS agierte meiner Meinung nach viel rationaler: Mißtrauen wurde
gesät und die Überwa-
chungsmaßnahmen erhöht, um die gespanntere
und damit straftatenaffinere Situation unter observativer Kontrolle zu
haben und dann rechtzeitig zu-
schlagen zu können. Oft wurde die Überwachung
auch ganz unverhohlen betrieben, um von Taten abzuschrecken und zu signalisieren,
daß dem MfS nichts entgeht. Wenn man so will stellte das Gesetzbuch
der DDR bereits das grösste und permanent arbeitende Projekt zur Zersetzung
von Oppositionen dar. Jeder wußte das, noch bevor er sich entschied,
oppositionell tätig zu werden. Oppositionell aktiv zu werden u.a.
auch wegen der und gegen die Existenz solcher Gesetze.
Frank Willmanns Text
Auch in Frank Willmanns Text setzt sich das auffällige
auf die Stereotypie der DDR-Vergangenheit fixierte Episodenhafte nahtlos
fort, nur daß es nun noch durch Weimarer und Westberliner Episödchen
über Protagonisten des Mauer-
strichs und andere Weimarer Personen ergänzt
wird. Dabei hatte man von einem Text, der vom Herausgeber dieses Buches
und Aktionsteilnehmer ge-
schrieben ist mehr erwartet. Aber wenn, wie er
schreibt, sein Hauptbeweg-
grund für die Teilnahme an der Strich-Aktion
ohnehin der Wiederbelebungs-
versuch einer von ihm nachträglich erfundenen,
real nie existierenden Künst-
lergruppe gewesen ist, dann ist an interessanten
Gedanken über seine Motive und die damalige Westberliner Situation
tatsächlich wenig zu er-
warten. Willmanns Text ist gespickt mit mal mal
mehr, mal weniger herabwürdigenden Darstellungen anderer Personen,
vornehmlich -natürlich - ebenfalls aus der Weimarer Vergangenheit.
Hinzu legitimiert er seinen damals gestellten Ausreiseantrag in die Bundesrepublik
unnötigerweise mit einer angeblichen konkreten Bedrohungslage seiner
Person, deren angegebene Gründe von ihm erfunden sind. Zu all diesen
Details äußere ich mich in meiner ausführlichen Auseinandersetzung
mit dem Buch "Der weise Strich", welche für Interessierte weiter unten
via Link zugänglich ist.
Nach einem langen Fußmarsch durch den seifigen
Matsch Willmannscher Vergangenheitswelten ist der Leser endlich an
der weiss bestrichenen Mauer angekommen. Bezüglich des Urhebers der
Strichmalerei will Willmann -wider der unzweifelhaften Tatsache- zunächst
im Ungefähren verweilen, wenn er schreibt: "Ich glaube, Jürgen
hatte die ursprüngliche Idee“. Ein paar Sätze später fällt
er von diesem Glauben ab und schreibt nun, " daß er- J.Onißeit
( d.Verf.)- die Mauerstrichidee vorgetragen hat“. Gleich darauf folgt der
nächste Widerspruch, wenn er zunächst ausführt, daß
jeder seine eigenen Vorstel-
lungen zum Sinn der Aktion gehabt hätte aber
daraufhin wenig später erfreu-
licherweise realitätsnah erklärt, daß
wir mit dem Strich beabsichtigten "das Lebensgelände, daß uns
in Westberlin umgibt, festzumachen". Und obwohl er dies also konstatiert,
spricht er erneut ein paar Zeilen später von seiner Enttäuschung
über Onne`s an die Mauer geschriebenen Erklärung des Zwecks
der Aktion, in der die der Strich als Verdeutlichung des Westberliner
Lebens-
geländes ausgedrückt wird. Er- Willmann-
hätte das nicht nur surrealer for-
muliert, sondern gern auch die Unfreiheiten in
der kapitalistisch-bundes-
deutschen Gesellschaft mit einbezogen. Entsprechende
Beweggründe findet man aber in seinem Text und auch sonst in seinen
seit 2011 gemachten Auslassungen über die Aktion nicht. Warum nicht
? Wäre es doch allemal eine willkommene Motiv-Bereicherung gegen die
eingleisig von ihm und allen Medien produzierte Bedeutung, daß der
weisse Strich gegen die Brutalität der Todesgrenze protestieren und
an die vom SED-Regime gefangenen Brüder und Schwestern in der
DDR erinnern sollte. Willmann erklärt weiter, daß Onnes geschrieben
Botschaft ihm zu sehr gegen den Osten gerichtet gewesen sei. Doch genau
das war er ganz im Gegensatz zu dem heutigen Sinn-Konsens eben nicht. Denn
ob es sich bei der Berliner Mauer um ein Fabrikat der DDR handelte, war
uns im Grunde egal, es ging lediglich darum, eine Mauer, die das eigene
Leben eingrenzt wieder also eine solche bewußt zu machen: durch Ziehen
eines Grenzstrichs, der nicht identisch ist mit dem der DDR-Staats-
grenze zu Westberlin, sondern die durch Zäune
und Mauer existierende phy-
sische Grenze für den Westberliner Bürger
nachzeichnet.
Verhaftungssituation
Ausführlich äußert sich Frank Willmann
zu meiner Festnahme, wobei sich
fragt, woher er all diese Informationen hat, wo
er doch selbst, sobald er die Gefahr in Form von DDR-Grenzposten erblickte,
davonrannte. Willmann war zudem mehrere Meter von mir entfernt, als die
Grepos plötzlich aufgetaucht waren. Er hatte also in der für
ihn zunächst noch sichtbaren Situation eine eindeutige räumliche
Distanz, später, als sich durch die Flucht diese Distanz noch vergrößerte,
war ihm die Situation ohnehin nicht mehr optisch zugäng-
lich. Wie konnte er also meine Reaktionen
und meine Gefühle so genau beobachten , wie er es in seinem Text beschrieben
hat : „Wolfram hatte seine Zigarette in der Hand und guckte die Grenzer
an, nach dem Motto, was wollt ihr eigentlich, ich bin lieb, mal hier nur
einen kleinen Strich. Er war überrascht, verblüfft und sich in
keinster Weise der Gefahr bewußt." Dabei war das Gegenteil der Fall:
gerade weil ich mir der Gefahr angesichts der zu dritt unmittelbar vor
mir stehenden bewaffneten DDR-Grenzposten bewußt gewe-
sen bin, die entschlossen genug aussahen, mich
–wie Grepo Fittinger dem ZDF erklärte- bei Widerstand „flachzulegen“,
blieb mir gar nichts anderes übrig, als aufzugeben. Und das in dem
Bewußtsein, daß ich höchstwahr-
scheinlich nicht mehr als zweiwöchige U-Haft
befürchten mußte und darum in dieser aussichtslosen Situation
Gesundheit und Leben nicht aufs Spiel setzen mußte. Frank Willmann
war nicht nur einige Meter weg von der plötzlich entstandenen Festnahme-Situation,
sondern hatte, da die Grenzer nicht hinter ihm standen, aus der seitlichen
Distanz die Anwesenheit der Grepos auch noch einen Moment vor mir
erfaßt. Er blickte daraufhin auf mich und die hinter mir stehenden
Grenzer, rief „Wolfram“ und im selben Moment, als ich das Malen unterbrach
und mich umdrehte raste er weg und kann daher meine Reaktionen gar
nicht mehr mitbekommen haben. Ich erblickte die 3 bewaffne-
ten Grenzer vor mir und saß in der Falle.
Angesichts der im Kapitel zur Aktionschronologie beschriebenen tatsächlichen
und schlüssig nachvollzieh-
baren Ereignisse um meine Verhaftung und die informative
Begegnung mit der Westberliner Polizei am Leuschnerdamm kommen Willmanns
Ausführungen einer durch Falschdarstellung ermöglichten beabsichtigten
Beleidigung gleich, die die eigene -bei ihm häufig durch Vergleiche
bewirkte- Selbstaufwertung einem Mindestmaß an Respekt gegenüber
dem Opfer der damaligen Situation vorzieht. Wobei Willmann die Suggestivität
seiner Darstellungsmittel dabei offenbart. Denn um mein angeblich realitätsfernes
und naives Verhalten zu verdeutlichen schreibt Willmann, ich hätte
während meiner Festnahme eine Zigarette in der Hand gehabt. Man fragt
sich bloß, warum das Halten einer Zigarette situationsadäquate
Reaktionen verhindern sollte, zumal, wenn ihr Erfolg wie in diesem Fall
überhaupt nicht von der Bewegungsfreiheit der Hände abhängig
ist. Aber davon abgesehen: Auf den Fotos, die von mir während
der Malaktion gemacht wurden, sieht man mich kein einziges Mal rauchen,
stets hatte ich links den Eimer und rechts den Pinsel in der Hand, so auch
während des Malens vor meiner Festnahme. Aber Willmann geht es gar
nicht um die Zigarette, er möchte nur das Stereotyp vom in seinem
eigenen Zigarettennebel derealisierten Raucher bemühen, von
dem er sich via Vergleich als situationsadäquat handelnder Realist
absetzen kann. Diese Äußerungen sind letztlich nicht verwunderlich,
denn sein ganzer Text ist auffällig häufig gespickt mit direkten
oder indirekten Vergleichen zwischen seinem und dem Verhalten anderen Personen,
seien es die Feministen, Hippies, die DDR-Dableiber, ich, Polit-Aktivisten
usw. Und jedesmal führt die Abwertung dieser Personenverhalten zu
seiner eigenen aufwertenden Darstellung. Daher ist es nur folgerichtig
, daß er auch in dieser Situation der individuell völlig unterschiedlichen
Bedrohung durch die DDR-Grenzposten mit der verhöhnenden Darstellung
meines Verhaltens seine eigenes aufwertet.
Am Abend des Verhaftungstages erschien ein Beitrag
in der Berliner Abend-
schau des Senders SFB , in dem Willmann und Jürgen
Onißeit vor der Kamera auftauchen. Da heisst es noch: "Wolfram hatten
sie schon am Arm und mit gezogener Waffe: Mitkommen. Er hatte keine Chance
mehr". Heute nun hat man sich inhaltlich für das Gegenteil der
damaligen Aussage entschieden. Fast 25 Jahre später lesen wir in Willmanns
Buch, ich sei aus Gutgläubigkeit und Derealisiertheit mal eben mit
den Grepos einfach mitgegangen. Frank Willmanns Darstellung der Festnahme-Situation
in seinem Buch ist es, die die Medien dann in dieser Version übernommen
haben und daraufhin Sätze wie diese schrieben: „Willmann kann gerade
noch in die Büsche springen, Hasch hingegen bleibt einfach stehen.
Er denkt wohl, es geht ihm wie dem kanadischen Mauerläufer John Runnings,
und sie lassen ihn schnell wieder frei.“(Der Tagesspiegel.). Mit dem, was
sich damals real abgspielt hatte haben diese Ausführungen nichts zu
tun, komplettieren aber die Schräglage des gesamten Aufbereitungs-Projekts
dieser Aktion und fügen der verfehlten Darstellung des Aktionssinns,
der Überbetonung der biographischen Hinter-
gründe als Aktionsimpuls und Grund der personellen
Zusammensetzung einen weiteren Fehlgriff hinzu.
Thomas Onisseits Text
Nachdem man Frank Willmans Text gelesen hat ist
es geradezu eine Wohltat, das "Interview" mit Thomas Onißeits
zu lesen, ist es doch angenehm frei von „alternativen Fakten“
und Selbstaufwertungen. Stattdessen tauchen durch seine Gedanken Aspekte
auf, die bereichern und manchmal auch zur Klärung mancher Irritationen
beitragen.
Ein prägnantes Westberliner Zeitzeugnis ist
Thomas Ausführung über den Freiheitscharakter der Berliner Mauer,
wenn man sie von Westberlin aus betrachtete: ."Ich konnte daran erkennen,
wo ich war: auf der richtigen Seite. Wenn ich daran erinnert werden musste,
bin ich zur Mauer mit einem Sixpack (Bier..d.Verf.) und hab mich auf eins
der schönen Aussichtstürmchen gehockt". Genau so fühlte
es sich an. Von Westberlin aus gesehen war die Berliner Mauer Zeichen der
Freiheit und ihre Mauermalereien schienen die positiv respektlose Antwort
auf die öde Funktionalität einer kolossalen und in ihrer grauen
Wucht deprimierenden Betonmauer. Angesichts dessen, was hinter dieser Mauer-
sowohl im Todesstreifen als auch in der DDR-Gesellschaft- Realität
war, wirkte die Berliner Mauer tatsächlich wie ein Schutzwall und
zwar für die Freiheit Westberlins, deren Bürger und auch für
all die Leute aus der Subkultur, die die Mauer wie eine sichere Geländeumsäumung
ihrer „Spielwie-
se Westberlin“ empfanden.
Aus den Ausführungen über die befreiend
wahrgenommene Westseite der Mauer kommt Thomas dann schliesslich zur Strichaktion.
Daß sein Bruder Jürgen diese Idee hatte erwähnt er wie
eine unzweifelhafte Tatsache.
Meiner Meinung nach etwas unrealistisch behauptet
Thomas dann, daß, da
die späteren Strichmaler mehr unter sich
waren, es keinen Westler gab, der mitmachen wollte. Immerhin sagt er damit
eindeutig, daß wir durchaus zusammen mit Wessis den Strich gezogen
hätten und es keine reine Wei-
marer oder Ex-DDRler-Aktion sein sollte.
Auch Thomas spricht über Onnes zu Strichaktions-Beginn
an die Mauer geschriebenen Botschaft und findet im nachhinein gut, daß
der Zweck unserer Aktion auf diese Weise öffentlich und damit dem
späteren Betrachter des Strichs verständlich gemacht wurde. Das
ist der eine Aspekt, aber zu ihm gesellt sich inzwischen noch ein zweiter,
nämlich der, daß auch wir Mauer-
maler nun im Falle von Gedächtnisausfällen
daran erinnert werden, weswegen wir diese Aktion damals begonnen haben.
Die Botschaft befand sich im übrigen nur an einer Stelle an der Mauer
und würde daher nur einen geringen Teil der Betrachter erreichen.
Es handelte sich also eher um einen symbo-
lischen Akt der Veröffentlichung des beabsichtigten
Sinns, jedoch keineswegs darum, möglichst vielen Betrachtern
die Absicht des Strichs zu vermitteln.
Am Ende seines Textes sinniert Thomas noch über
die möglichen Gründe darüber, was die Strich-Gruppe auseinanderbrachte.
Als hätte sie jemals als solche wirklich bestanden? Und als hätte
sie eben in dieser spontan kolla-
borierenden Zusammenkunft nicht auch später
noch bestanden, als wir mit Ausnahme von F.Willmann und F.Schuster, dafür
wiederum mit den für die Teilnahme an der Strichaktion angesprochenen
Freunden Volker O. und Jan Georg F. gemeinsam regelmässig Musik machten.
Daß die zunehmende Interessendifferenzierung,
aber auch das Eingebun-
densein in neue Lebenszusammenhänge und Beziehungen
alte Freundschaften auflöst, ist das Normalste auf der Welt. Und so
kam es, daß aus einem po-
tenziellen Mitwirker-Kreis von lose bis intensiv
verbundenen schätzungswei-
se 15 bis 20 Personen sich fünf zur Strich-Aktion
bereitgefunden hatten, von denen sich zwei später enfernten, dafür
andere Personen aus diesem beste-
henden Bekannten-und potentiellem Teilnehmerkreis
zusammen mit drei der einstmaligen Mauerstrichmaler (den Brüdern Onißeit
und mir) Musik und Aktionen machten. Alles andere ist Erfindung für
die Geschichtsschreibung.
Frank Schusters Text
Frank Schusters Text beginnt damit, daß er
sich nicht erinnern könne, wer die Idee zur Aktion des weissen Striches
hatte. Interessant an seinen Erin-
nerungen ist die, daß wir damals durchaus
mit der Absicht an die SFE-Schule gegangen sind, das Abitur zu machen.
Das widerspricht sich mit dem, was später darüber von Willmann
verbreitet wurde: daß wir nur das gute Geld mitnehmen und ansonsten
mit der Schule und dem Abiturziel nichts zu tun haben wollten. Wenn Frank
schreibt, daß wir nach Schulschluß immer auf Demo gingen, so
stimmt das zwar überhaupt nicht, soll aber den tatsächlich stark
politisch- aktivistischen Charakter dieser Schule aufzeigen und weist ganz
nebenbei darauf hin, daß wir offenbar recht regelmässig in der
Schule gewesen sind, was sich mit der angeblichen Existenz als vorsätzlicher
Schü-
ler-Simulant nicht recht in Einklang bringen läßt.
Sehr erfreulich an Franks Text ist, daß er
immerhin einen Gutteil darin der Strichaktion, ihren Hintergründen
und Folgen widmet, sodaß man hier den Eindruck hat, er will dem Leser
tatsächlich etwas darüber sagen, statt ihn mit thema-fernen
Episoden zu ermüden. Daß unsere Aktion von vielen entsetzten
Reaktionen begleitet war, ist allerdings frei erfunden. Obwohl ich wie
alle anderen auch auf das Ziehen des Striches konzentriert gewesen bin,
habe ich meine Antennen offengehalten für Reaktionen von Passanten
und kann ein
zahlreiches, gar heftig negatives Reagieren von
Passanten auf unseren Strich absolut nicht bestätigen. Ebenso stimmt
es nicht, daß wir uns der fragenden Springerpresse kollektiv verweigert
hätten und diese uns dann trotzdem in der Zeitung heroisierend thematisierte.
Thomas hatte der BZ ein Interview ge-
geben. Damit war er für die Springer-Schreiber
vermutlich eben unser Presse-
sprecher und die kollektive Verweigerung schlug
damit fehl. Unsere Aktion dann später schlagzeilenmächtig zu
thematisieren war für die Springer-Zei-
tung schon deshalb kein Widerspruch. Eher widersprüchlich
am Gesamtver-
halten des Springer-Verlages scheint mir gewesen
zu sein, daß sie uns den Zugang zu ihrem Gelände für unsere
Aktion verweigerten, diese Aktion aber dann später in ihren Zeitungen
begrüßten.
Wieder einige Zeilen später spricht Frank
von der Anziehung, die die Front-
stadt Westberlin auf ihn ausgeübt hat ähnlich
wie für viele andere junge Menschen auch, die aus Flucht vor der Bundeswehr
und den Zwängen und Diskriminierungen in ihren Käffern nach Berlin
gingen und uns damit ähnlich waren: auch wir waren den Zwängen
entkommen, die neben den in unserem Fall extrem politischen die gleichen
tief kulturellen, (klein-) bürgerlichen Zwänge gewesen waren
wie die der westdeutschen Außenseiter.
Über unsere Strich-Aktion schreibt Schuster,
daß wir uns über die kleinen Türchen in der Mauer keine
Gedanken gemacht hatten, was darauf hinweist, daß wir auf Unwägbarkeiten
eigentlich nicht gut vorbereitet gewesen sind. Künstler, die mit ihren
aktionistischen Arbeiten in gesellschaftliche Automa-
tismen eingreifen, deren Hüter daraufhin
meist drastisch reagieren, gehen in der Regel organisierter vor und
machen sich vorher mit möglichst allen Aspekten des von ihnen gewählten
Ortes und dessen Absicherungslogistik vertraut. Sie planen sicherheitstechnische
und sonstige auf ihre Aktivitäten eventuell erfolgende Reaktionen
einzubeziehen, um, sofern dies machbar ist, darauf wirksame alternative
Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die auch, den völlig Abbruch
einschließt,wenn dieser die einzige sinnvolle Möglichkeit bleibt.
Wir hielten eine solche logistische Vorbereitung für übertrieben.
Was immer MfS und westliche Medien später an künstlerisch und
politisch moti-
vierter Organisiertheit in unsere Aktion hineindichteten,
um sie - mit jeweils konträrer Beurteilung- aufzuwerten, es
entspricht einfach nicht den Tatsachen.
Wenn Frank erwähnt, daß Presse nicht
geplant war, so verweist er auf unsere ursprüngliche Intention: es
war eine Aktion um ihrer selbst willen und der öffentlichkeitswirksame
Charakter beschränkte sich auf den Ort selbst und nicht die mediale
Öffentlichkeit. Das Medium waren wir selbst. Und die Öffentlichkeit
war der passantenfrequentierte Ort, an dem wir den Strich zogen. Die organisierte
mediale Öffentlichkeit setzte ja erst nach meiner Verhaftung ein.
Auch Frank hatte, wie er in seinem Text erwähnt,
angenommen, ich käme nach meiner Verhaftung gleich wieder frei. Dieselbe
Annahme hatte ich ja ebenfalls gehabt und an dieser Vermutung eines undramatischen
Ausgangs änderte auch das resolute, mich gewissermaßen vor vollendete
Tatsachen stellende Auftreten der Grepos nichts, denn um zunächst
einmal überhaupt verhaften zu können war solche Resolutheit ja
notwendig. „Er (Hasch) war Westberliner Bürger, die Aktion nicht vordergründig
politisch, ich dachte, die nehmen das auf und schicken ihn wieder rüber.
Er hatte nichts Schlimmes getan. Wie viele andere davor und danach hat
er die Mauer als Projektions-
fläche genutzt, nur ein wenig Farbe auf eine
Mauer gemalt." Daß es dann ausgerechnet mich traf, wo ich noch Bewährung
hatte und eine schwangere Freundin zurückließ, findet er ungerecht,
wobei dem hinzuzufügen ist, die Verhaftung einer der anderen Strichmaler
angesichts des geringen Anlasses doch ebenfalls sehr ungerecht gewesen
wäre. Frank Schuster bemerkt dann
zudem noch den ungünstigen Umstand, daß
ich auch noch derjenige gewesen bin, der am kürzesten in der neuen
Freiheit gewesen ist. Auch an dieser un-
präzisen Erinnerung sieht man, wie eng die
Freundschaft zwischen uns wohl gewesen sein muß, denn die Tatsachen
waren andere gewesen. Von den 5 Strich-Akteueren waren die beiden Franks
(Schuster, Willmann) im Frühjahr 1984 nach Westberlin
übergesiedelt. Ich und Jürgen Onisseit kamen Anfang 1985 hinzu,
Thomas Onisseit folgte Im Herbst 1985. Aber das ist letztlich sowieso
auch nur "Statistik", denn ab einem gewissen Zeitpunkt, sagen wir einem
Jahr, waren Zeiträume seit der Übersiedlung eigentlich nicht
mehr relevant. Die Integration in die Sellbstverständlichkeiten des
neuen Lebens gingen so rasant vonstatten und wurden auch begünstigt
durch unsere vergleichweise privilegierten Möglichkeiten als Übersiedler
von Deutschland nach Deutschland (Sprache, Kultur, Freunde, auch die langjährige
Informiert-
heit durch BRD-Fernsehen in der DDR ist dabei
nicht belanglos), daß sie uns bald zu Selbstverständlichkeiten
geworden waren und durch ihre Rasanz auch noch in einer oft geradezu unreflektierten
Weise.
Gegen Ende seiner Ausführungen erklärt
Frank: „Für die Medien waren wir nur ein Spielball, sie interpretierten
das hinein, was sie drin haben wollten.“Und weiter: "Die Aktion war keine
eindeutig politische, wurde aber dazu gemacht." Was Frank hier für
die unmittelbare Zeit nach meiner Verhaftung feststellt könnte er
genausogut ein Vierteljahrhundert später nach der Veröffentlichung
des Buches von Willmann und Hahn und der darauf einsetzenden öffentlichen
Resonanz gesagt haben. Das befremdliche der aktuellen gegenüber der
da-
maligen - gleichen - Bedeutungsgebung ist jedoch,
daß man aus den 1986 gemachten Erfahrungen mit den eingleisig politisierenden
Medien im Grunde offenbar nur gelernt hat, es ihnen am besten gleichzutun,
um nicht erneut enttäuscht zu werden. Denn angesichts von Franks Äußerungen
frage ich mich, warum man 2010/11 genau diese- unsere Aktion als Protest
gegen die DDR und deren Lebensbedingungen interpretierende- Realpolitisierung
nicht von vornherein mit eindeutig anderslautenden Motiv- Aussagen verhindert
hat, wo man doch nach den Erfahrungen von 1986 vermuten konnte, daß
sie erneut losgetreten werden würde. Nun ist es zu spät und die
Texte auf dieser Webseite letztlich nur noch ein Nachwort zu einem
großen, aber nun gültig bleibenden Miß-Verständnis.
Zu
den Texten und Interviews im Buch der weisse Strich
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